Hallo Freunde des runden Leders (Genitiv, ne Cabrio ),
hier mal ein interessanter Artikel:
„Weisheiten des Ururgroßvaters“
Sportwissenschaftler Roland Loy zerstört mit kühler Statistik lieb gewonnene Fußballgrundsätze und fordert zum Schweigen auf
Von FOCUS-Redakteur Axel
Focus: Setzen sich die Aussagen Ihres erkenntniskritischen Buches* durch, müssten die meisten Trainer, Spieler und Fußballexperten künftig schweigen, auch Diskussionen an den Biertresen und in den TV-Studios wären jeder Grundlage beraubt.
Loy: Was ich mit meiner Pflichtlektüre in die Köpfe pflanzen will, ist Folgendes: Glauben Sie bloß nicht alles, was die Leute Ihnen über Fußball erzählen! Denn meine statistischen Ergebnisse sind völlig konträr gegenüber jenem falschen Wissen, das sogenannte Experten täglich über Fußball verbreiten. Es existieren nahezu unzerstörbare Mythen, an die wir seit der Kindheit gewöhnt sind und die nicht wahrer dadurch werden, dass sie irgendein Fachmann ständig wiederholt.
Focus: Schon in der E-Jugend habe ich gelernt, dass der Gefoulte auf gar keinen Fall den ihm zugesprochenen Elfmeter selbst treten soll. Ist das magisches Denken?
Loy: Mit der Realität hat das jedenfalls nichts zu tun. Drei Viertel aller Elfmeter landen im Tor – völlig egal, ob der Gefoulte oder sein Kollege antritt. Wenn der Schütze zudem in die obere Torhälfte schießt, erhöht sich die Erfolgsquote auf satte 99 Prozent.
Focus: Borussia Dortmund ist im Uefa-Cup gegen Udinese Calcio im Elfmeterschießen rausgeflogen. Die parierten Bälle hatten die Spieler halbhoch oder flach geschossen. Sie haben für das ZDF mit BVB-Trainer Jürgen Klopp zusammengearbeitet. Hat Klopp bei Ihnen nichts dazugelernt?
Loy: Jürgen Klopp kennt meine Elferstatistiken und hat sie als ZDF-Experte öfters erwähnt. Warum er diese Erkenntnis dann als Trainer nicht benutzt hat, weiß ich nicht. Viele Trainer setzen lieber auf ihren Instinkt als auf gesicherte Fakten der Sportwissenschaft ...
Focus: ... und lassen bei Regen aus der zweiten Reihe schießen?
Loy: Genau, noch so ein Mythos! Nur einer von 37 Schüssen von außerhalb des Strafraums landet im Ziel. Das scheinen mir zu viele Versuche zu sein, um daraus ein gültiges Erfolgsrezept abzuleiten ...
Focus: ... dann also über die Außen – nicht nur DFB-Sportdirektor Matthias Sammer fordert beständig Flanken, Flanken und noch mehr Flanken ...
Loy: Der Glaube, die Erfolgsaussicht über die Seiten sei größer als durch die Mitte, lässt sich statistisch widerlegen. In beiden Fällen liegt die Quote bei 1,5 Prozent. Zudem hat nur eine von 50 Flanken ein Tor zum Ergebnis.
Focus: Wie viel Zufall ist denn überhaupt bei einem Torerfolg im Spiel?
Loy: Ich habe 20000 Tore untersucht, und rund die Hälfte der Treffer resultiert aus purem Zufall – abgefälschte Bälle, Innenpfosten-Treffer, Gestocher im Strafraum. Dieser Sport ist derart komplex, dass niemand sagen kann, wie erfolgreicher Fußball aussehen muss.
Focus: Bundestrainer Joachim Löw behauptet aber, er „weiß jetzt, was man braucht, um erfolgreichen schönen Fußball zu spielen“. Ist das Einbildung?
Loy: Im Fußball werden Spekulationen oft erst nach Spielende zu Wissen. Trainer stellen sich vor die Kamera und tun so, als resultiere der Sieg allein aus ihrer Planung. Joachim Löw, Jürgen Klinsmann und andere sollten offen zugeben, dass sie schlichtweg nicht wissen, wie erfolgreicher Fußball zu Stande kommt. Ich fordere deshalb einen Paradigmenwechsel hin zu mehr Zurückhaltung. Wenn Trainer den Eindruck erwecken, sie seien allwissend, ist das reinster Humbug und zeigt die Angst vor dem Autoritätsverlust. Wir sind Lichtjahre davon entfernt zu verstehen, wie Fußball funktioniert.
Focus: Führen wenigstens der hochgelobteTempofußball mit wenigen Ballkontakten und die bessere Zweikampfbilanz zum Erfolg, und ist der Treffer, wenn er dann kurz vor der Pause fällt, der viel zitierte „psychologisch ungünstigste Moment“ für den Gegner?
Loy: Alles Quatsch! Ballstafetten über bis zu drei Spieler führen nur in einem Prozent aller Fälle zu Toren, solche über 13, 14 oder 15 Stationen dagegen in sieben Prozent. Auch die Quote der gewonnenen Zweikämpfe ist kein Hinweis auf den Sieg. Weil einem Tor aber oft mindestens ein verlorenes Duell vorausgeht, ist der Eindruck, den wir über die Bedeutung des Zweikampfverhaltens gewinnen, verzerrt. Und auch die Annahme vom psychologisch ungünstigen Zeitpunkt ist wissenschaftlich keineswegs gesichert.
Focus: Wir müssen offenbar zunächst Banales klären. Ist das erste erzielte Tor von Relevanz für den Spielausgang? Immerhin enden nach Ihrer Statistik 7,8 Prozent aller Spiele mit 1:0.
Loy: (lacht) Gewiss, in sieben von zehn Spielen geht das Team als Sieger vom Platz, welches das erste Tor schießt.
Focus: Schön zu hören! Welche historischen Fußballwahrheiten haben Sie noch statistisch beweisen können?
Loy: Wenn ein Trainer nach einer Reihe von Misserfolgen ausgewechselt wird, hat sein Nachfolger gemäß der Annahme „Neue Besen kehren gut!“ tatsächlich kurzfristig größeren Erfolg. Ich habe auch Daten gesichtet, wonach es den Heimvorteil wirklich gibt. Und beim Elfer wird klar, dass der Rechtsfuß am häufigsten in die linke Ecke zielt.
Focus: Das bringt uns zum Zettel in Jens Lehmanns Torwartstutzen beim Elfer-Krimi im Viertelfinale der WM 2006. Hält es ein Statistiker für möglich, dass auf so einem Papierchen gesicherte Daten zur Lieblingsecke der Argentinier stehen?
Loy: Dieser Zettel ist wohl das eigentliche Sommermärchen 2006. Es ist kaum vorstellbar, dass die DFB-Leute zuvor eine aussagekräftige Anzahl von Elfmetern aller argentinischen Spieler gesichtet haben. Man müsste die Elfer der Schützen in allen Länder- und Vereinsspielen ausfindig machen. Der Zettel war vielleicht ein psychologischer Erfolg, aber eher kein statistischer.
Focus: Ist dann der „gläserne Profi“, den beispielsweise der Sportwissenschaftler Riccardo Proietti dem FC Bayern München zum Amtsantritt versprochen hat, eine Utopie?
Loy: Proietti diagnostiziert kardiologische und hormonelle Parameter, die nur einen kleinen Ausschnitt der Realität abbilden. Daraus erfolgsrelevante Schlussfolgerungen abzuleiten ist nicht möglich. Das ist, als richte man sein Augenmerk auf nur einen Quadratmeter Rasen und übertrage dann die Ergebnisse auf das gesamte Spielfeld. Beim Fußball gibt es keine monokausalen Zusammenhänge, sondern Multistrukturen, Mehrdimensionalität und Relativität.
Focus: Als Franz Beckenbauer noch beim FC Bayern als Trainer agierte, hat er gern auf Ihre Datenbank zurückgegriffen. Auch beim Kauf von Mario Basler und beim Verkauf von Ciriaco Sforza soll Ihre Faktensammlung berücksichtigt worden sein. Das klingt nach der kühlen mathematischen Logik von Computerspielen wie „Fußballmanager“.
Loy: In Detailfragen können Statistiken über Stärken und Schwächen Einzelner Aufschluss geben. Aber ein Faktor wie beispielsweise Spielwitz ist nicht messbar.
Focus: Könnte es dann sein, dass die statistisch nicht verifizierten Fußballsprüche wenigstens psychologische Wirkung entfalten, also der Mannschaft Sicherheit suggerieren, sofern diese an die Weisheiten ihres Trainers glaubt?
Loy: Das weiß ich nicht. Mein Ziel ist jedoch, dass die verschiedenen Experten – Mediziner, Psychologen und Sportwissenschaftler – enger zusammenarbeiten. Auch die Trainerausbildung sollte sich an den neuesten Erkenntnissen orientieren. Viel zu viele wiederholen schlicht die falschen Weisheiten von Vater, Urgroßvater und Ururgroßvater.
FAKTEN-FINDER DES FUSSBALLS
3000 Spiele hat Roland Loy in 20 Jahren untersucht.
* Der Sportwissenschaftler mit Diplom berät das ZDF bei Fußballübertragungen und hat die Trainer-A-Lizenz des DFB.
* Unter Franz Beckenbauer analysierte er den FC Bayern und die deutsche Nationalmannschaft und baute 1992 die sog. „ran“-Datenbank auf.