08.03.2011, 15:34 Uhr | FUSSBALL.DE
Von Sebastian Schlichting
Zehn Punkte hat der Spandauer SV in den vergangenen sechs Spielen geholt. Eine ordentliche, aber keine überragende Bilanz. Ähnliche Erfolge fallen bei den Spandauern jedoch fast schon in die Rubrik "Die Älteren werden sich erinnern". Es war im Herbst 2007, damals noch zwei Spielklassen höher in der NOFV-Oberliga Nord. Inzwischen ist der SSV in der siebtklassigen Berliner Landesliga gelandet – und hofft dort auf den Klassenerhalt. Eine Tatsache, die vor zwei Monaten noch undenkbar war. Am Sonntag trifft man um 14 Uhr an der Neuendorfer Straße im Duell zweier ehemaliger Zweitligisten und langjähriger Regionalligisten auf den SC Charlottenburg(FUSSBALL.DE wird die Partie mit vier Kameras und zwei Reportern begleiten. Am Dienstag nach dem Spiel wird der Beitrag online zu sehen sein.)
2009 aus der Oberliga abgestiegen, 2010 aus der Berlin-Liga, nun zur Winterpause mit null Punkten Letzter in der Landesliga gewesen. Was ist in den letzten Jahren beim Spandauer SV schief gelaufen? Kurz gesagt: alles. Noch vor einigen Jahren träumte man von größeren Ligen. Doch nicht eben fähige Herrschaften in wichtigen Positionen sowie angebliche Geldgeber, die kein Geld gaben, brachten den 1894 gegründeten Klub fast ins Grab. „Ich war mehrmals nah am Herzinfarkt“, sagt der 1. Vorsitzende Günter Vogt, der seit 1960 Mitglied ist. Im Frühjahr 2010, als sich der SSV mit satten 183 Gegentoren aus der Berlin-Liga (6. Liga) verabschiedete, wurde ein neuer Mann für die erste Reihe gesucht. "Jünter, dit kannst Du doch erstmal machen", baten ihn die letzten verbliebenen Alt-SSVer. Und Jünter tat, wie ihm geheißen. Für seinen Klub, den der 64-Jährige in den 60er und 70er Jahren in der Vertragsliga erlebt hat, der damals zweithöchsten deutschen Spielklasse. Später dann auch ein Jahr in der 2. Bundesliga. 1975/76 war das, die Saison endete mit acht Pluspunkten.
Einer von Vogts Mitstreitern ist René Orgis, Partner einer Firma für Sportmarketing. Er stellte die Mitglieder vor die Wahl: Insolvenz inklusive Neuanfang ganz unten. Oder die Rettung versuchen. Variante zwei bekam die Mehrheit. Orgis begab sich auf Sponsorensuche, was kein leichtes Unterfangen war. Der SSV ist ein Name in Berlin, vor allem ältere Berliner Fußball-Freunde bekommen bei diesen drei Buchstaben glänzende Augen. Genau wie bei Wacker 04 (früher Zweitligist, inzwischen umbenannt in BFC Alemannia 90 Wacker) und Tasmania 1900 (ein Jahr Bundesligist, inzwischen umbenannt in Tasmania-Gropiusstadt 73), beide spielen in derselben Landesliga-Staffel wie Spandau und Charlottenburg.
Doch Sponsoren gucken weniger auf die Vergangenheit. Sie sahen, was sich in letzter Zeit abgespielt hatte. Die Abstiege waren die eine Sache, das "Wie" die andere. Mehrfach wurden nicht spielberechtigte Akteure eingesetzt, mal hatte man nicht elf Leute, angeblich soll ein Gegner sogar Geld gesammelt haben, damit Spandau überhaupt antritt. Das wurde allerdings heftig dementiert. In seiner Not griff der Verein auf SSV-Denkmal Frank Marczewski zurück. Marczewski hat für den Klub in der 2. Liga gespielt hat – vor 35 Jahren. "Die Leute fanden es toll, dass sich etwas tut, aber sie waren zurückhaltend", erinnert sich Orgis an seine ersten Versuche, Geldgeber aufzutreiben. Inzwischen hat er immerhin drei Sponsoren gefunden, die honorieren, dass der Klub von zwischenzeitlich nur noch 87 wieder auf 300 Mitglieder angewachsen ist, mit Schwerpunkt auf dem Nachwuchs.
Bester Torjäger der Liga soll das Team zum Klassenerhalt schießen
Sportlich ging der Sturzflug erstmal ungebremst weiter. 0:5, 0:6, 0:7, 0:9 – die Spandauer nahmen wieder den Stammplatz ganz unten ein. "Wir haben uns in den letzten Jahren lächerlich gemacht", sagt Günter Vogt. Im Dezember gab es dann die ersten Gerüchte: "Der SSV rüstet auf", "die holen richtig gute Leute." Vom Liga-Konkurrenten Galatasaray Spandau kam tatsächlich Trainer Murat Tik, der dort von den Verantwortlichen enttäuscht war und zuvor gekündigt hatte. Er war früher schon beim SSV und brachte nun mehrere Spieler mit, unter anderem Serdar Kucak, den besten Torschützen der ganzen Liga. Als der erste Punkt geholt wurde, war das dem Berliner Fachblatt "Fussball-Woche" sogar eine Erwähnung auf der Titelseite wert.
Es fehlen noch viele Punkte
Doch die angekündigte Aufholjagd ist bislang ein Aufholspaziergang. Der Rückstand auf den rettenden 13. Platz beträgt weiter elf Punkte, die Zugänge tun sich in neuer Umgebung noch schwer. Zumindest gegen Galatasaray Spandau, den Ex-Klub von Trainer Tik, gelang am Wochenende ein Sieg. In der Nachspielzeit. Ein Endspiel, das gewonnen wurde. Zwölf weitere folgen. Rund 35 Punkte dürften am Ende wohl zum Klassenerhalt benötigt werden. Fehlen noch 25, bei 36 zu vergebenen muss man kein Mathe-Genie sein, um zu erkennen, wie schwer das wird. Eine Mission Impossible? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht, denn die Mannschaft ist vom Potenzial her im ersten Drittel der Tabelle anzusiedeln.
Schlaflose Nächte bereiten die Spandauer den anderen Klubs jedenfalls noch nicht. "Mir macht das keine Angst. Noch sind sie ja nicht wirklich in Sicht", sagt Nicolas Wolff, 1. Vorsitzender beim nächsten Gegner SC Charlottenburg. Der SCC ist zwar selbst noch nicht aller Abstiegssorgen ledig, blickt aber auf acht Spiele ohne Niederlage zurück. Und überhaupt: "Mehr Druck als wir hat sicher der SSV." Das weist dessen 1. Vorsitzender Vogt nicht von der Hand: "Wenn wir verlieren, können wir den Klassenerhalt wohl vergessen." Vogt würde auch das nicht mehr schocken. Für ihn ist der SSV wie eine Ehe – er steht zum Klub, in guten wie in schlechten Zeiten.