Manchmal gönnt man sich, auch wenn es mit der eigenen Liebe gut läuft, mal eine Affäre. Meine Liebe ist seit mehr als 22 Jahren Stahl Brandenburg, meine Affäre seit gut 11 Jahren Rot-Weiß Erfurt. Diese ist zuletzt wieder entflammt, weshalb ich froh drüber war, doch noch eine Mitfahrgelegenheit zum Auswärtsspiel auf St. Pauli zu bekommen. Nach einem tollen Stau in Berlin erreichte man Hamburg dann doch relativ gemütlich und war eine Stunde vor Kick Off da. 5,50 € ermäßigt - ganz schön teuer. Programmheft schon zu dem Zeitpunkt komplett vergriffen - armselig. Fahnen hingen nicht, Bier gabs auch nicht - das Spiel war in die Sicherheitsstufe 1 eingeordnet worden. Nun, wenn die brandschatzenden, rechtsradikalen und schmarotzenden Ossis kommen, vermutlch die einzig vorgesehene Entscheidung. Um die zu gerechtfertigen, gab es nach der 1:0-Führung für RWE in der 15. Minute eine Rangelei zwischen Erfurtern und dem Team Green, welches sich daraufhin verstärkte und zeitweise mit knapp einer Hundertschaft im Gästeblock präsentierte. Der Mob ließ sich davon aber nicht provozieren, und bis auf einen vollkommen überflüssigen Flaschenwurf und 2/3 Bengalos passierte nichts, was die Ordnungskräfte hätte in Aufruhr versetzen können. Passieren tat ne Menge auf dem Spielfeld. Erst erzielte Rot-Weiß das vermeintliche 0:2, das aber frühzeitig abgepfiffen und wegen Abseits nicht gegeben wurde. Im Gegenzug dann eine verunglückte Rettungsaktion, und es stand 1:1. Der Support war bis dahin gut. Nach der Halbzeitpause, ebenso wie die Seiten wurde der Capo im RWE-Block gewechselt, war er gigantisch. 1.500 Erfurter (ja, es waren so viele!!!) gaben 16.667 St. Paulianern eine Lehrstunde in Sachen Support. Nicht unbedingt super kreativ, aber auf jeden Fall lautstark, abwechslungsreich und fanatisch. Es war fast schon erschreckend anzusehen, wie selten die Hamburger akustisch auf sich aufmerksam machten. Nur ein paar Unentwegte in der Singing Area versuchten ihr Bestes, waren im Gästeblock aber nur selten zu hören. Und auf die ironischen "Sankt Pauli - Nazipack"-Rufe wußten sie erst rechts nichts einzuwenden und grübeln vermutlich immer noch, wie sich Fans eines Ostvereins so etwas erdreisten können. Auf dem Spielfeld gab es derweil eine gutklassige, muntere Partie mit Chancen auf beiden Seiten. Das 1:1 entsprach am Ende voll und ganz den Leistungsverhältnissen, der RWE ist damit nun schon zehn Spiele ungeschlagen. Nach einer mehrminütigen Feier mit der Mannschaft lehrte sich der Block schnell, und die RWEer entschwanden auf den benachbarten Dom (Volksfest) und in alle anderen Himmelsrichtungen. So auch eine Autobesatzung gen Südosten, und so war ich gut 4 Stunden nach dem Abpfiff wieder im beschaulichen Berlin-Weißensee.
Fazit: St. Pauli ist nicht mehr das, was es mal war. Eintritts- und Imbisspreise mittlerweile ganz schön teuer, das Programmheft auch ziemlich schwach, die Stimmung sowieso. Der nette Umgang mit den Gästefans (lange Begrüßung, Vereinshymne wird gespielt) ist nach wie vor vorbildlich, und auch sonst wirkte alles relativ friedlich. Auch wenn ich stimmungstechnisch bei meinem sechsten Besuch enttäuscht war - für einen tollen Fussballabend unter Flutlichtatmosphäre ist man am Millerntor immer an der richtigen Adresse. Auch wenn es heute die Gästefans waren, die dem Spiel das Besondere verliehen...
