Viel ist aus der laufenden Saison nicht mehr rauszuholen. Doch bevor die Fußballbühne ab dem 26.Juni freiwillig den Frauen überlassen wird, gibt es noch ein paar wenige Punkte auf Landesebene zu verteilen. Und ein Spiel in Thüringen hat sich das Prädikat "Derby" wahrlich verdient, auch wenn die Platzhirsche RW Erfurt und CZ Jena längst im wohlverdienten Urlaub sind. In Thüringens drittgrößter Stadt stehen sich der 1.FC Gera 03 und die BSG Wismut gegenüber. Letztere sieht sich ähnlich wie Oberligist Lok Leipzig als Nachfolger des alten DDR-Vereins und findet dementsprechend Zuspruch.
Im Zug und am Hauptbahnhof im fast schon Westsächsischen sehe ich einige Gleichgesinnte, die noch ein letztes Fußballhighlight mitnehmen wollen. Die ca. 600 Meter zum Stadion scheint für einige Ortsunkundige schon die erste Hürde zu sein, obwohl die Polizei bereits am Bahnhof bereitsteht. Ich gönne mir beim Asiaten die nötige Dosis EHEC (gebratene Nudeln inkl. Sprossen), um über den Tag zu kommen. Am Parkplatz unterhalb des ehemaligen BuGa-Geländes tauchen erste Ballsportgemeinschaftler auf. Das Motto lautet schlicht: Alle in Orange – kein Problem für die BSG, eine Warnweste hat schließlich jeder im Auto.
Für ermäßigte 4€ und ein kostenloses Programmheft mache ich es mir auf der Haupttribüne des Stadions der Freundschaft bequem. Das Stadionheft kann sich absolut sehen lassen, dazu eine Sonderbeilage mit den besten Impressionen von der Landesmeisterfeier: der 1.FC ist mit 20 Punkten Vorsprung längst aufgestiegen. Wismut belegt übrigens einen guten sechsten Platz – es wird also nur Prestige vergeben.
Es folgen vor dem Spielbeginn noch ein paar Danksagungen, Martin Dolecek verlässt 03 Richtung Leipzig-Probstheida. Gera-Legende Udo Korn rückt bei Wismut ins zweite Glied, wird durch Spielertrainer David Kwiatkowski ersetzt. Die zahlreichen BSG-Fans, sicherlich 150-180 aktive supportende, zeigen eine Choreo, die parallel zu den Ehrungen untergeht: Unter dem Motto „Im Märchenschloss zu Osterstein regiert der Wolf und nicht das Schwein“ wird ein „Allez BSG“-Banner über drei schwarz-gelbe Schweinchen drüber gezogen.
Kurz darauf geht es endlich zur Sache auf dem Rasen. Der Meister will das Spiel an sich reißen, macht aber zu viele Fehler. BSGer David Helbig rennt sich die Lunge aus dem Leib, erarbeitet sich als Belohnung zwei Topchancen. Ihm fehlt aber die Nervenstärke seines Namensvetters Sebastian. FC-Coach Jörn Schwinkendorf schickt nach einer Viertelstunde die Wechsler zum Warm machen. NullDrei wird besser, hat mehr Spielanteile, spielt konsequent über außen, um die kompakte Deckung auseinanderzuziehen. Ohne durchschlagenden Erfolg.
Stattdessen stolpert Rico Heuschkel einen weiten Einwurf für die Wismut zur 1:0-Führung ins Tor (23.)! Nun rennt der künftige Oberligist an, trotz durchdachtem Spiel fehlt offensiv die Genauigkeit. Hinten regiert weiter das Chaos: Kwiatkowski, Helbig und Heuschkel lauern auf Konter, veredeln aber keine der sich bietenden Chancen. Lok kann sich auf Dolecek freuen! Folgerichtig geht es mit dem 0:1 in die Pause.
Zu Beginn der zweiten Hälfte streicheln die handvoll FC-Supporter mal ihre Trommel, ansonsten geht das Duell auf den Rängen sonnenklar an die BSG. Obwohl der Wind denkbar ungünstig steht, sind nur die Orange-Schwarzen zu hören. Die haben ein Transparent für den Gerschen Udo Korn angefertigt und präsentieren es nicht ohne stolz.
Die zweite Hälfte beginnt mit einem Knaller an die Lattenunterkante von Mark Reiters Wismut-Tor, der Ball bleibt aber vor der Linie. Der Spitzenreiter will die Serie von neun Siegen in Folge nicht abreißen lassen, nach einem erneuten Chaos im Oranje-Strafraum zappelt der Ball endlich zum Ausgleich im Netz. Doch der Linienrichter hat die Fahne oben und jetzt gerät der Sport kurz zur Nebensache. Der Assistent und der Schiedsrichter, der auf den sympathischen Namen Sven Köhler hört, werden belagert. BSG-Torwart Reiter und Christian Schmidt geraten aneinander – beide müssen vorzeitig duschen gehen. Schmidt wird mit kleiner Platzwunde vorher noch verarztet. Es geht weiter mit 10 gegen 10.
Und nun deutet alles auf einen Heimsieg. Der quirlige, aber bis dahin uneffektive Brasilianer Carlos Pereira netzt gegen Ersatztorwart Robert Thieme per Seitfallzieher, nicht ganz unhaltbar: 1:1 (73.). Und der Mann vom Zuckerhut ist danach heiß auf sein 29.Saisontor, bei seinem Fallrückzieher ist Thieme zur Stelle. In den letzten 10 Minuten kann auch Wismut sich gelegentlich wieder befreien, Kwiatkowski ist inzwischen platt, Helbig ausgewechselt. Also muss Heuschkel fast allein gegen vier Abwehrspieler stürmen. Kurz vor Schluss lässt er Bewacher Armand Deugoue stehen und schiebt den Ball lässig an Dolecek und dem FC-Tor vorbei.
Es läuft die Nachspielzeit. Die Partie fing später an, dazu das Handgemenge, Platzverweis – keiner kann ernsthaft sagen welche Nachspielminute ist und wieviele folgen. Erneut pennt die 03-Abwehr, Heuschkel rennt mal wieder frei auf den starken Dolecek zu, der ist zwar wieder dran – doch der Ball trudelt ins Tor (90+3.). Köhler pfeifft ab. 2:1-Auswärtssieg für die BSG. Die Spieler können es gar nicht fassen, rennen ziellos über den Platz. Im Gästeblock herrscht Party. Ich verwerfe die Idee zum Zug zu sprinten und beschließe Gera eine Stunde länger zu ertragen.
Die Mannschaft geht geschlossen, Arm in Arm zu ihren Fans. Auch die hastig eingespielte Musik lässt die Wismut-Anhänger nicht verstummen. Torwart Thieme erstürmt den Zaun und hat noch eine knapp dreiminütige UFTA in petto, die mit der Hommage an den Mann endet, der in Gera so viel bewegt hat: Udo Korn.
Es wirkt wie ein kleines Märchen, der Underdog siegt im letzten Derby für mindestens ein Jahr in letzter Spielminute beim allerletzten Spiel der Legende auf der Trainerbank. Es war die erste und damit einzige Heimniederlage für Gera 03.