Nach langer Enthaltsamkeit möchte ich der Welt einen Bericht schenken, einen Bericht, der in epischer Breite den Regionalligaauftakt des Chemnitzer Fußballclubs thematisiert.
Grundlage meiner Zeilen ist eine Fahrt am letzten Freitag, die mich auf meinem Heimweg von Baden-Württemberg nach Sachsen einen kleinen Umweg über Leverkusen nehmen ließ. Leverkusen? Da war doch etwas? Vor Jahren hatte ich über die Stadt geschrieben: "Wer seine ostdeutsche Heimat wirklich liebt, der wird sich auch in Leverkusen wohlfühlen. Ausgedehnte Industriegebiete mit Bitterfelder Flair, Plattenbaugebiete Marke „sozialistischer Realismus“ und die allseits beliebten Altneubauten der Ulbricht-Ära versprühen den einbetonierten Charme der DDR. Durch diese Bausünden bahnten wir uns frühmorgens den Weg zur BayArena, Heimstatt einer Mannschaft, die angesichts des Umfeldes auch Traktor Leverkusen heißen könnte."
Deshalb hatte ich mir folgerichtig geschworen, nie mehr einen Fuß in dieses zu groß geratene Gewerbegebiet zu setzen, nachdem ich beide Stadien in der Stadt aus Plaste und Elaste gesehen hatte. Und ich lebte fortan glücklich und zufrieden. Doch die teuflischen Kobolde in Frankfurt ertrugen mein Glück nicht und sandten meine Chemnitzer Recken schon am ersten Spieltag an den Rhein. Das konnte ich mir nicht entgehen lassen...
Vor dem Spiel: Zuerst besichtigte ich die Sehenswürdigkeiten der Stadt: das McDonald's, wo ich natürlich nichts gekauft habe, und die Havanna Bar. Wer sich übrigens fragt, was eigentlich Rudi Völler macht, sollte mal an den Drive-In-Schalter im Leverkusener Fast-Food-Tempel fahren. Zudem hat er ganz säuberlich viele bunte Heftchen von Bayer Leverkusen an der Toilette abgelegt, darunter allen Ernstes eines namens "Meine Fan-Bibel". Verrückt, der Sektenbeauftragte ist schon informiert. Vielleicht hatte ich aber auch die Plazierung am WC nur nicht richtig interpretiert und der Müll diente der Körperhygiene?
Auf dem gegenüberliegenden Parkplatz hatte sich inzwischen ein Auto neben meines gestellt, in dem aus irgendeinem Grund sämtliche 20 Airbags gleichzeitig ausgelöst worden waren. So dachte ich. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, daß nur Rainer Calmund oder einer seiner Verwandten in dem Wagen saßen ...
Nach der Aufnahme eines Apelsaftes in der Havana Bar konnte ich mich endlich zum Stadion begeben. Auf dem Weg wurde mir noch ein Flugblatt in die Hand gedrückt, auf dem die Evangelische Jugend Werbung für ihr Piratencamp im benachbarten Freibad machte. Höhepunkt: Ein nächtlicher Überfall! Leider fand ich niemanden in unserem Block, der meinen Humor teilt und mußte deshalb auf den Spaß verzichten, mit 20 jugendlichen Fußballfans an der Badkasse zu erscheinen, um sich für die Durchführung des Überfalls zu melden.
Während des Spiels: 7 Euro ärmer betrat ich dann den Block, in dem sich an die 200 Chemnitzer versammelt hatten. Auch der MDR hatte seine beste noch in Freiheit (oder auf der Flucht?) befindliche Kraft geschickt - Bodo Boeck stand leibhaftig vor unserem Block. Das mediengeile Volk aus Chemnitz ließ sich erst fleißig beim Schwenken von finnischen und norwegischen Winkelementen filmen, um dann vor allen in Person einer einzelnen Person die Delegation des Staatsfernsehens zu belegen. Höhepunkt war sicherlich ein verzweifeltes, gelallbrülltes "Hördochmalzuh", als würde mit 3,9 Promille intus gleich der Sinn des Lebens erklärt werden. Der zweite Running Gag im Chemnitzer Lager resultierte aus einer sinnlosen Pöbelei im Ultras-Gästebuch ("Wir sind 100 Hools und dazu xundneunzig Dresdner, wir machen euch platt!"), was fortan mit "Hurra, Hurra, Hurra, Hurra, wo sind die tausend Dynamos, deswegen sind wir da" eifrig besungen wurde.
Auf dem Platz tat sich derweil Erstaunliches. Wider Erwarten spielte der CFC richtig stark auf, was auch den Neuzugängen im Team zu verdanken war. Schließlich gelang Frank Mayer, der aus Düsseldorf gekommen war (9 Tore in der letzten Saison), per Kopf sogar das 1:0. Leider. Warum leider? Nun, ich war über den Treffer so erfreut, daß ich mich spontan zum Zaunsturm entschloß. Leider fand dabei der Zusammenhang zwischen spitzen Pfählen auf dem Zaun und dem Bereich Unfallvermeidung nicht den Weg in meine Großhirnrinde. Ergebnis: Eine wild suppende Wunde in meiner linken Handfläche. Zu allem Überfluß hatte der behandelnde Sanitäter nichts besseres zu tun, als mich nach meiner letzten Impfung gegen Wundstarrkrampf zu fragen ("Äh, keine Ahnung?") und mir noch zu erzählen, daß man bei einer Infektion nur sechs Stunden Zeit hat ("Äh, um etwas zu unternehmen oder Restlebenszeit?"). Den Rest des Tages grübelte ich darüber nach, ob die Schmerzen in meiner Hand ihre Ursache schon in der Diphtherie hatten oder doch eher darin, daß ich mir gerade einen Jesus.Christus-Gedächtnispfahl ins Fleisch gerammt hatte (dieser Programmpunkt fehlte bei der Evangelischen Jugend übrigens völlig).
CFC-Angreifer Salonen aus Finnland verlor durch meine Probleme anscheinend die Nerven und holte sich schon nach 30 Minuten eine gelb-rote Karte von FIFA-Schiedsrichter Meyer ab. Doch gerade danach hatte der CFC seine stärkste Phase, die nach einer Einwurfflanke von Görke durch die schwarze Perle Adamu mit dem 2:0 gekrönt wurde. Danach bot sich die Gelegenheit, den Blick etwas im Block schweifen zu lassen. Und siehe da, ich hatte einen Trend gesetzt. Denn mittlerweile hatte die Hälfte der Schlachtenbummler wie ich einen schicken Verband an einer der Hände. Woher soll man in Chemnitz auch wissen, wie man sich nach einem Torerfolg zu verhalten hat? Für Verwunderung sorgte nur ein modischer Außenseiter, der unbedingt sein Knie verbinden lassen mußte. Hat er sich damit am Zaun hochgezogen?
Mittlerweile hatten sintflutartige Regenfälle eingesetzt. Wir waren mittendrin im Jahrhundert-Unwetter, was normalerweise immer für die beste Stimmung im Auswärtsblock sorgt. Da ich mich allerdings schon im Todeskampf mit dem Wundstarrkrampf sah, war ich nicht besonders erpicht auf eine Lungenentzündung und beneidete die 650 Leverkusener um ihre Regenschirm-Choreographie. Auch der CFC verlor seine klare Linie und geriet ins Schwimmen (Bela-Rethy-Standardfloskel). Die Mannen von Ulf Kirsten, der bei uns zweifelsfrei als einer der 1000 Drecksdynamos identifiziert wurde, erzielten so sogar den Anschlußtreffer, bevor Goalgetter Mayer erneut seine Qualitäten zeigte und zum 3:1 abschloß. Auch der Treffer von Bayer in der Schlußminute, Kategorie Traumtor, konnte letztendlich nichts am verdienten Chemnitzer Sieg gegen Abstiegskandidat Nummer 2 ändern.
Fazit: Langer Bericht zu einer kultigen Fahrt. Wer bis hierher gelesen hat, wird nun auch noch um ein vernünftiges Fazit betrogen. Pech, Leute. Und dabei habe ich noch nicht mal was von der Tankstelle in Glauchau geschrieben, an der ich früh um 3 wegen der Sturmschäden fast mit einem Anhänger Kartoffeln bezahlen hätte müssen...