Ist von meinem Kumpel Sebastian
Wir schreiben den 30.10.2004. In wenigen Tagen jährt sich der Mauerfall zum 15. Mal, Zah-lungsmittel ist in Ost, West, Nord und Süd dieses Landes der Euro. Und doch gibt es noch Orte, an denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, an denen die Vor-1989-Ära wieder lebendig wird. Zum Beispiel in Angermünde, Jahn-Sportplatz. Der gastgebende Angermünder FC bolzt seit zehn Minuten gegen Borussia Criewen, da werden wir von der Seite angespro-chen: „Einsfünfzig, bitte“, raunt ein Mann mit einem Plastikbierbecher in der Hand. Langsam dämmert es uns: Der Bierbecher ist die Kasse, Einsfünfzig der Eintrittspreis. Zu entrichten übrigens in Euro, auch wenn man beim Blick auf die Eintrittskarte, Marke Kinoabriß-Kärtchen, anderes denken könnte: „2,00 M + 0,10 M Kulturfonds“ steht dort, gleich unter: „Kreiskulturhaus Angermünde.“ Statt 2.10 Ost-Mark warfen wir dann doch 1.50 Euro in den Bierbecher. In unserer Eintrittskartensammlung bekommt dieses scheinbar schmucklose, gräulich-bläuliche Papierchen auf jeden Fall einen Ehrenplatz.
Nicht nur die Karte, nein, das ganze Fußball-Ereignis – hier spricht man noch nicht von „E-vent“ – war ein Stück aus einer anderen (besseren) Fußball-Zeit. Bockwurst und Bier zu mo-deraten Preisen, von Wind und Wetter schon mitgenommene Parkbänke als Sitzplätze und eine terrassenartige Plattform als überdachte Stehplätze. Willkommen in der Ost-Uckermarkliga. Dorthin hatte es uns auf der Durchreise aus Berlin zu unserem Trip zum Match Pogon Stettin gegen Amica Wronki hinverschlagen.
Anstoß 14 Uhr in Angermünde, der Zug nach Stettin ging erst um 16.23 Uhr. Das Spiel war also gesetzt. Außer uns wollten rund 46 andere Gäste den AFC sehen, Bockwurst essen, Bier trinken, und ab und zu ein wenig über den Schiri oder das Geschehen auf dem Rasen me-ckern. Unterm Dach stehend natürlich, während die Kicker fast 90 Minuten im Nieselregen die Bälle hin und her droschen. 1:1 hieß es am Ende einer Partie, die man nicht unbedingt als hochklassig bezeichnen sollte. Macht nichts, nett war`s trotzdem in dieser Sportanlage mit ihrem ganz eigenen maroden Charme. Der konsumorientierte Fan von heute, den die Bundes-liga-Vereine so gerne sehen, wäre hier wahrscheinlich schreiend davongelaufen, wir jeden-falls fanden es ohne den ganzen Kommerz-Unsinn sehr viel entspannender. Oder, um es mit einem der Spieler aus der Zweiten Mannschaft zu sagen, die vor dem Hauptkick dran war: „Ick hol mir erstmaln Pils.“
Durch die samstagnachmittägliche Ruhe Angermündes ging es zurück zum Bahnhof und ab nach Stettin. Nach kurzer Orientierungslosigkeit fanden wir sogar die Straßenbahn-Linie 7, entrichteten am Stadion faire 15 Sloty für einen Schalensitz nah der Torauslinie und kamen grade noch rechtzeitig zum Intro der Pogon-Fans: Eine Klorollen-Wurfaktion von Fanblock und Haupttribüne (!). Überhaupt gab sich nicht nur die Kurve, sondern auch die Tribüne er-staunlich sangesfreudig. Da konnte man supporttechnisch nicht meckern. Die Anhänger Ami-ca Wronkis dagegen waren entweder gleich zu Hause geblieben, in den Kneipen Stettins ver-sackt oder standen im Stau. Jedenfalls gab sich während des gesamten Spiels niemand als Auswärtsfan zu erkennen. So feierten die rund 10.000 Einheimischen in dem hufeisenförmi-gen Stadion mit blauen und roten Sitzen ganz unter sich den verdienten 1:0-Erfolg ihres Teams. Ein wichtiger Sieg im Abstiegskampf gegen die drittplatzierten Gäste.
Dumm nur für uns, daß Herbergers Spruch vom Spiel und den 90 Minuten im Florian-Krygier-Stadion nicht viel zählte. Erst begann die Partie später, dann wurde die Halbzeit ver-längert, zu guter Letzt gab es reichlich Nachspielzeit, bis 20:14 Uhr. An sich `ne feine Sache, wenn der Ball länger rollt, aber der letzte Zug gen Angermünde würde darauf wohl keine Rücksicht nehmen. 20:45 Uhr fuhr er – um 20:37 Uhr stiegen wir aus der Straßenbahn und standen an einer Kreuzung, wo wir auf dem Hinweg definitiv nicht waren. Und der Bahnhof war schon gar nicht in der Nähe. Letzte Rettung Taxi. Der Fahrer hatte trotz deutlicher Hin-weise auf unsere Zeitnot die Ruhe weg und erzählte uns, nachdem er mitbekam, daß wir aus Berlin waren, in gutem Deutsch etwas über seinen Bruder, der seit 25 Jahren in Berlin lebt, danach über Artur Wichniarek und fragte schließlich, was denn eigentlich mit Blau-Weiß 90 passiert sei. In Gedanken sahen wir uns schon bei der Hotelsuche, doch der Mann war nicht nur ein freundlicher Plauderer, sondern auch ein zügiger Fahrer. Eine Minute vor Abfahrt waren wir am Gleis, es blieb sogar noch Zeit, beim Kiosk das letzte polnische Geld abzuwer-fen und Bier einzusacken. Perfekt!