Das Wunder von Bern - Eine kritische Nachbetrachtung
Viele von euch werden mit Sicherheit am gestrigen Abend die Dokumentation im ZDF gesehen haben. Wenn sich selbst meine Frau dazu herablässt, sich freiwillig eine Reportage anzutun, die sich mit Fußball beschäftigt, muss etwas Besonderes anliegen. Dazu habe ich mir im Vorfeld noch das gleichnamige Buch des Autors Peter Kasza geholt. Gut fand ich, dass das Spiel auch einmal von der ungarischen Warte aus betrachtet wurde. Schließlich gehören dazu ja immer zwei Seiten. Im Buch wird dabei sogar die These aufgestellt, in den sich an das Spiel anschließenden Krawallen eine Vorstufe des Ungarnaufstands von 1956 zu sehen. Ein wenig weit hergeholt, wie ich finde.
Dennoch freue ich mich, dass Spiel endlich auch einmal in einem gesamtpolitischen Kontext gesehen zu haben, wobei das Buch die Behauptung, dass der Gewinn der Weltmeisterschaft den eigentlichen Staatsgründungakt der Bundesrepublik darstellt, negiert. Dieses Zitat von Joachim Fest sei nur aus dem Zusammenhang gerissen worden. Es lautet schließlich und endlich:" Es habe drei Gründungsväter der BRD gegeben. Adenauer im politischen, Erhard im wirtschaftlichen, und Fritz Walter im mentalen Bereich."
Schließlich und endlich wurde ja auch in der damaligen DDR entsprechend mitgefiebert. Schade eigentlich. Ein wenig mehr in die Details bezüglich sozialistischer Solidarität und landsmannschaftlicher Verbundenheit hätte man schon gehen können. Aber zumindest im Buch wird darauf schon etwas näher drauf eingegangen, weil hier auch der DDR-Reporter, der das Endspiel im Radio kommentierte zu Wort kommt. Ach. Noch etwas. Wusstet ihr, dass die wenigen Fernseher in der damaligen DDR seitens der Staatsführung mit den Aufnahmen und Kommentaren aus dem Westen bedient wurden?
Aber auch einige andere Aspekte finden meines Erachtens immer noch zu wenig Beachtung. Offenbar ist Hooliganismus wohl doch nicht ein Phänomen der heutigen Zeit. Wer einige Briefe nach der 3:8 Niederlage gegen die Ungarn in der Vorrunde liest bekommt erschreckend vor Augen geführt, dass es mit Friede, Freude, Eierkuchen in der damaligen Zeit auch nicht so weit her war. Und die Auseinandersetzungen während und nach dem Spiel zwischen Brasilien und Ungarn sprechen ja wohl auch Bände. Immerhin aber ein Aspekt, der für mich absolut neu war.
Ganz anders hingegen die für die damalige Zeit absolut neuartigen Trainingsmethoden. Offensichtlich wurde kaum etwas dem Zufall überlassen. Wenn sich Sepp Herberger schon 1953 beim Spiel England gegen Ungarn akribisch Gedanken über die Taktik und Laufwege der Ungarn macht, so spricht das Bände. Dazu dann noch die erstmalig zum Einsatz kommende Methode der Unterwassermassage von Deuser. Respekt, Respekt. Das mit den für die damalige Zeit revolutionären Schraubstollen des Adi Dassler war mir allerdings nicht neu.
Ganz anders hingegen der Dopingverdacht. Darauf ist meines Erachtens, obwohl Doping in der damaligen Zeit nicht verboten war, auch in der Dokumentation nicht ausreichend eingegangen worden. Sicherlich legt die rätselhafte Gelbsuchtinfektion der WM-Spieler einen solchen Verdacht nahe, doch hat laut eigenen Aussagen, Kwiatkowski sich ja keine "Vitamin C" Spritzen setzen lassen. Die nahe liegende Frage, ob er nun aber an Gelbsucht erkrankte, oder nicht, wurde leider nicht gestellt.
Interessant natürlich auch die Begleiterscheinungen der Unterkünfte der Teams. So soll das Hotel in Solothurn, das den Ungarn als Herberge diente, wohl ursprünglich den Deutschen als Heimstatt angeboten worden sein. Aber da hätte Sepp Herberger seine Truppe eher nicht so unter Kontrolle gehabt. Und ob der Geist von Spiez da nicht doch dem Geist des Weines gewichen wäre? Für die These des mündigen Spielers hätte Sepp Herberger jedenfalls nur ein Lächeln übrig gehabt. Kasernenhofstil. Das passt zu ihm. Allerdings hätte kaum ein Spieler gewagt, offen gegen diese Art der Menschenführung zu rebellieren.
Und wenn ich an die leuchtenden Augen der Hotelangestellten bei der Erwähnung des Namens Puskas denke, scheint es dort auch nicht gerade prüde zugegangen zu sein. Ob aber der Charly Mai mit seiner damaligen Verlobten Mittel und Wege gefunden haben?
Es gibt aber noch einen gewichtigen Unterschied zwischen Buch und Fernsehfilm. Im Buch wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Spieler der Ungarn, wie damals im Ostblock üblich, Staatsprofis mit den entsprechenden Rechten und Pflichten waren, die sich auf drei Vereine konzentrierten. Das es sich bei unseren Spielern um lupenreine Amateure handelt, denen nur eine Aufwandsentschädigung gewährt wurde, bezweifle ich bis heute. Meines Erachtens ist da hinten herum mit günstigen Einkaufsrabatten, freizügig gewährten Darlehen, und entsprechenden Arbeitszeitregelungen im Betrieb, einiges gelaufen.
Die Ungarn jedenfalls gewährten sich durch ihre vielen Auslandsreisen einen lukrativen Nebenverdienst. So bezog sich die legendäre Frage des Zöllners bei der Wiedereinreise des Teams nach dem Spiel gegen England:" Haben sie etwas zu melden?" wohl eher auf die mitgeführte Schmuggelware, und nicht nach dem nackten Ergebnis.
Verschwörungstheoretiker, wie die angeblich den Spielern angebotenen Mercedes Limousinen, kamen in der Reportage jedenfalls nicht auf ihre Kosten. Warum auch, genossen die ungarischen Spieler für die damalige Zeit doch ungeheure Privilegien. Und ausgerechnet einen englischen Referee der Parteilichkeit, oder Bestechlichkeit - jenes ominöse Abseitstor - in der damaligen Zeit anzuklagen? Na ja. Ich weiß nicht. Was das Wembleytor angeht, müssen wir Deutsche ja wohl still sein.
Im Gegensatz zum Buch wenig Beachtung fand in der Reportage leider der weitere Lebensweg der ungarischen Spieler. Aber dafür fehlten wahrscheinlich nicht nur die Zeit, sondern auch das Interesse seitens der Redaktion und des Publikums.
Dennoch alles in allem ein gelungener Versuch, Zeit- und Fußballgeschichte auch dem "jüngeren" Publikum etwas näher zu bringen, und wiederaufleben zu lassen. Allerdings bleibt für mich weiter die Frage offen, weshalb, wahrscheinlich nicht nur mir, Teile der Radio- und Fernsehreportage, als Nichtzeitzeugen, immer noch Schauer über den Rücken jagen lassen.
GAGA