Seit Wochen geisterte nur ein kurzes Wörtchen durch den halleschen Wortschatz: "Kiel". Ich fieberte Woche für Woche mit, um vielleicht in Kiel noch rechnerische Chancen zu besitzen und dann an der Ostsee eine Auswärtsfahrt der besonderen Sorte zu erleben. Immerhin reiste man als Tabellenzweiter an die Förde, eigentlich sprach wenig für einen Auswärtssieg aber in einem Spiel kann so viel passieren.
Aber von vorne:
Am Sonnabend ging es nach viel zu kurzer Nacht um 8.30 Uhr los und nach reibungsloser Fahrt quer durch die Republik und den staufreien Elbtunnel hieß die erste Station Neumünster. Bei einem ehemaligen Kommilitonen hatte ich Unterschlupf gefunden und die erste wichtige Etappe nach Kiel gemeistert. Die Stadt ist an sich ganz nett anzusehen, relativ belebtes Stadtzentrum. Backsteinbauten zieren einige historische Gebäude - das ganze ist sehr entspannt mit dem Rad zu erreichen. Abends wurde noch ausgiebig mit den Einheimischen gefeiert, die beim Stichwort Kiel meistens schnell die Sportart wechselten und den THW auf die Agenda brachten. Fußball spielt im hohen Norden eine klar untergeordnete Rolle, Kunststück wenn der eigene Handballklub an der Weltspitze spielt.
Sonntag war die erste schwere Aufgabe überhaupt aus den Federn zu kommen, 11.30 Uhr schaffte man es dann endlich aufzubrechen. Eigentlich zu spät, schließlich wollte ich vor dem Match noch ein wenig die Kieler City erkunden. Exakt um 12.03 Uhr erreichte ich die Stadtgrenze der nördlichsten Landeshauptstadt Deutschlands mit dem Fischkopp im Gepäck, der das Topspiel den Aufräumarbeiten nach der gestrigen Party vorzog. Der erste Weg sollte an die Förde führen. Auf dem Weg ging es noch vorbei an der Sparkassenarena Ostseehalle, also auch den Handballtempel mal gesehen. Am Landeshaus gings kurz raus und die Lungen wurden mit nordischer (salzhaltiger) Luft gefüllt. Weiter ging es zum Holstein-Stadion, wo man uns eher rau empfing und die Parkplatzsuche nicht gerade von Hilfsbereitschaft der verantwortlichen Ordner geprägt war.
Kurzer Abstecher in den Fanshop, Karte abgeholt und dann mit meinem Gastgeber in das Kieler Stadion, wo bereits kostenlose Programmhefte auf mich warteten. Das Stadion ist nicht sonderlich spektakulär, sieht ein bisschen dannach aus, als ob man jede Tribüne einzeln an das Spielfeld gerückt hat, nicht besonders geschlossen und lediglich der Gästeblock entspricht der klassischen Fankurve. Auf jeden Fall recht charakteristisch, aber mit den Stahlrohrtribünen auch etwas bescheiden.
Im Sturm sollten Ronny Hebestreit und Thomas Neubert zum Einsatz kommen (das soll gut gehen?), Pavel David fehlte verletzt (dreck!). Bevor aber der Ball über den grünen Rasen hoppelte, gab es mal wieder eine Choreographie der Extraklasse, Eins mit Sternchen. Das Motto "Feuer frei" schien nichts besonderes zu sein, als aber im Gästeblock ein Hallore mit Muskete und ein Kieler Storch am blauen Himmel erschien, gab es die ersten Schmunzler. Der Storch - mit drei Punkten im Schnabel - zog nun seine Bahn über den Ostseehimmel bis er ins Fadenkreuz geriet und erst die Zähler und anschließend der Storch selber vom Himmel geholt wurde. Natürlich einige Pfiffe auf Seiten der Gastgeber, aber die originelle Darbietung nötigte einigen Einheimischen auch Applaus ab.
13.30 Uhr, endlich rollte der Ball: Holstein Kiel (1.) vs. Hallescher FC (2.), es war angerichtet. Leider spielte der Spitzenreiter genauso wie man es von ihm erwartete, das Geschehen wurde kontrolliert und hinten nichts zu gelassen. Neubert taucht das erste mal vor dem Störche-Tor auf, kommt aber nicht ansatzweise zu einem brauchbaren Abschluss. Kiel-Kapitän Sven Boy nähert sich ehrfürchtig dem Horvat-Gehäuse an, doch Darko musste innerlich bei dem Versuch wohl müde lächeln. Doch Holstein bestimmt die Szenerie, Schyrba verfehlt das Ziel, Hauke Brückner – den man aus dem TV von den Pauli-Pokalschlachten kannte – bietet einen kläglichen Schuss an. Dann der erste Schockmoment: Velimir Grgic bedient den freien Dmitrijus Guscinas, der das verwaiste Tor verfehlt. Der HFC eher harmlos: Nico Kanitz versucht eine weite Flanke per Kopf zu nehmen, wird behindert – der geschenkte Elfmeter bleibt aus. Generell schien der Sportsfreund Günther Perl kein Hallescher Freund zu sein. In der Anfangsphase verwehrt er dem Underdog den Kampf, pfeifft prinzipiell jeden Zweikampf ab. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit wenn der spielerisch klar unterlegene David zum überlegenen Goliath reist. In der 19.Spielminute klärt Steve Finke entschlossen und fair (gegen Grgic?) und drischt das Leder weit nach vorne, trifft dabei auch den Angreifer. Perl pfeifft zu meinem schieren Entsetzen Freistoß. Der Ball segelt in den Strafraum. Gewühl, es wird nicht geklärt, Tim Siedschlag schießt, trifft, 1:0 für Kiel.
Es sollte nicht mehr viel passieren im ersten Durchgang der HFC kriegt einen Freistoß zugesprochen, den Görke unter die Latte knallt – wenn nicht Michael Frech geklärt hätte. Es beginnt zu regnen, der Fritz-Walter-Faktor spielt mit, HFC-Wetter? Perl pfeifft ab, jedenfalls für 15 Minuten, soll es wirklich so enden? Der HFC verliert durch einen höchst gammligen Freistoß, durch ein Tor das nie fallen darf und lässt den Favoriten ziehen? Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Zweite Hälfte, Marco Stier macht seinem Namen alle Ehre: erst rennt er kompromisslos durch und beweist anschließend zu wenig Gefühl beim Abschluss, vorbeigeschlenzt. Der Regen wird stärker, Mitschriften verwischen, Regenschirme tauchen auf, es wird ungemütlich – vielleicht rutscht einer rein? Dafür braucht es erstmal potenzielle Torschützen, der Ex-Kieler Thomas Neubert macht für Sturmhoffnung Markus Müller Platz. Maik Kunze ersetzt Görke. Kunze spielte bei Lübeck – ist da noch was hängen geblieben, schießt er seinen Ex-Rivalen in den Abgrund? Zunächst startet Kiel den nächsten Anlauf, gleich vier Leute verpassen in der Mitte eine hereingabe, am knappsten Sven Boy mit der Binde am Arm. Grgic bietet noch so eine peinliche Schwalbe an, das Perl um die gelbe Karte nicht drum rum kommt.
Doch jetzt – Regen ist inzwischen Geschichte – passiert das unglaubliche. Die hochüberlegenen Ostseestädter überlassen Stück für Stück den Gästen das Feld. Sprintduelle, die der HFC in der 1.Halbzeit aufgrund der Souveränität des Gegners nicht mal angetreten hätte, werden gewonnen. Zweikämpfe geraten in die Rot-Weiße Hand. Kunze ist der erste Nutznieser, sein Volleyschuss segelt am Tor vorbei. Rene Stark probierts, abgefälscht.... kurz keimt Hoffnung auf... bis zu Michael Frech. Flanke von rechts, Brustannahme... aus dem Hintergrund müsste Müller schießen, Müller schießt.... vorbei. HFC nimmt den Kampf an, Hauke Brückner nicht und plumpst wehleidig zu Boden, keine Pauli-Pokalgene mehr im Genpool? Streithahn Stark und Weichei Brückner sehen gelb. Nun fliegen Frech langsam die Bälle um die Ohren, Müller kommt völlig frei zum Kopfball, vorbei. Hebestreit kann den Schlussmann auch nicht überwinden und Kanitz schießt unglücklich den Arm an. Der „Dicke“ wie Halles Kapitän genannt wird, glänzte generell über das gesamte Spiel mit viel Einsatz und hoher Laufbereitschaft. Mohammed Lartey sorgte für sowas wie Kieler Entlastung, schießt links vorbei... Darko wär da gewesen. Die Zeit verrinnt, zu viele vergebene Chancen, normalerweise reichen 3-4 Hundertprozentige für den Sieg. Doch davon ist man soweit entfernt, genauso weit wie vom Aufstieg, 8 Punkte sind es in der Blitztabelle. Die ominösen Schlussminuten brechen an, Kiel bricht in sich zusammen... doch Tore braucht man zum gewinnen!
Rene Stark steht im Halbfeld und flankt, ungünstige Position wie man aus zigtausend Situationen weiß, butterweich fliegt der Ball in den Strafraum doch kein Kieler interessiert sich für den Ball. Michael Frech entwickelt etwas Interesse und geht ein paar Meter aus seinem Gehäuse um dann den Kopfball des Erfurter Fußballgotts aus Nahdistanz zu sehen. Ronny „Hebe“ Hebestreit trifft das Leder optimal, keine Chance für den desorientierten Frech und ab damit ins TOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOR! 1:1, Glückseligkeit – es war nichts umsonst. Man hat diesen einen Moment miterlebt, wenn das Tor fällt und man mit seinem Verein, seiner Mannschaft feiert. Es ist die 85.Spielminute, Kiel ist gelähmt und es geht von neuem los, mit 5 statt 90 verbleibenden Spielminuten.
Rot-Weiß feiert, der Aufstieg wurde vertagt. Die Kurve startet eine finale UFTA. Die Förde bebt. So richtig gefährlich wirken die „angeschossenen Störche“ nicht. Rene Stark führt ersatzweise – Görke wie geschrieben raus – den Einwurf aus, der landet im hintersten Eck vom Strafraum, Kiel hat das Leder. Jan Benes ist aufgerückt, Jan setzt nach, er will diese Situation im Kieler „Wohnzimmer“ nicht verstreichen lassen. Perl lässt seit längerem schon wieder Zweikämpfe zu, so wie diesen. Benes zwingt seinen Gegenspieler dazu den Ball prallen zu lassen. Markus Müller steht da wo er stehen muss und hat bei Fabio Grosso anscheinend genau hingesehen. Der Italiener schlenzte den Ball 2006 im WM-Halbfinale von halbrechts perfekt ins lange Eck und bringt Italien entscheidend Richtung WM-Titel voran. Nun steht Markus Müller am Ball, tritt dagegen, Michael Frech fliegt wie einst Jens Lehmann erfolglos durch den 5-Meter-Raum, das Ding fliegt unvermeidlich ins TOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOR!!!!!! Falls jemals Störche in oder um Kiel ihre Brutplätze errichtet haben, wird das so schnell nicht wieder vorkommen. Ein Jubelschrei scheint ganz Schleswig-Holstein zu erschüttern, 1.000 Hallenser feiern Ostern, Weihnachten, Geburtstag, Nikolaus, Männertag/Frauentag, Silvester und Lottogewinn im selben Moment. 11 Rot-Weiß gestreifte wissen nicht wirklich was gerade mit ihnen geschieht, Sven Köhler bricht wohl seine eigenen Emotionsrekorde, Co Dieter Strozniak schreibt ein neues Kapitel in sein umfangreiches „HFC-Buch“, Mannschaftsleiter und Physiotherapeuten feiern als wären sie frischgebackene Weltmeister. Kiel steht Kopf.
Wir schreiben die 89. Minute und ich strahle mehr als jedes Kernkraftwerk, doch für die Vollendung benötigt es (mindestens) eine Minute. Kiel erkämpft sich auf der linken Seite einen Freistoß. Rene Stark geht zu Horvat und beschwört den Rückhalt. Kiels Lartey spielt den Freistoß zum (ganz) langen Pfosten, direkt ins Toraus. Auswechslung; bringt Zeit. Marco Hartmann bei seinem wohl kürzesten Einsatz, den nach dem er für Rene Stark das Spielfeld betritt und sich als „Sechser“ in die HFC-Formation einordnet pfeifft Perl ab: AUSWÄRTSSIEG!!!
Es folgen Bilder für die jeder Fußballfan lebt. Es folgen Zitate, die hier jeden Rahmen sprengen würden. Alle sagen in etwa das gleiche „Das gibt’s doch gar nicht.“ Am treffendsten drückt es wohl der Pressesprecher des HFC aus: „Die sind doch bekloppt.“ Die Mannschaft feiert vereint mit ihren Fans. Torschütze Markus Müller tauscht sein Trikot, anscheinend mit Kiels Capitano Boy. Ein kleiner Kieler Junge erkundigt sich bei den halleschen Spielern, ob er ihr Trikot haben kann. Die Helden lächeln, verneinen aber. Wer sein Trikot verschenkt, zahlt es aus eigener Tasche (60€) selber und auch wenn man Kiel niedergerungen hat – so viel Geld hat man als HFC-Spieler nicht jede Woche.
Die Trainer reagierten sehr unterschiedlich. Köhler hatte sich wohl als einziger Gast gefasst und sah – wie so oft – den „glücklichen Sieg“ bei seinen Jungs. Ein Unentschieden wäre gerecht gewesen, so der Freiberger. Falko Götz überraschte mich dagegen auf der gesamten Linie. Von seiner Hertha-Zeit ist wohl viel Professionalität hängen geblieben. So sah er mit der Spielweise der letzten 20 Minuten im HFC den verdienten Sieger. Treffend und sachlich analysiert der Fußballfachmann ein Spiel das für viel Emotionen und wenig Objektivität Platz lässt. Völlig richtig liegt er in seiner Einschätzung, dass Kiel immer noch vorne liegt (zwei Pünktchen sinds) und noch alles in der Hand hat. Kurios wurde es erst bei der Begründung des Leistungsabfalls in der 2.Halbzeit. Götz meinte, dass seine Mannschaft vielleicht Angst hatte, wegen dem Matchball. Fragt sich nur wie so eine Truppe vor einer Vorentscheidung bei den Kräfteverhältnissen Angst haben kann. Vielleicht schon etwas Ratlosigkeit bei Götz, die gern noch länger die Selbstsicherheit verdrängen kann.
Nun hieß es Abschied nehmen von der Stätte des Triumphs. Selten wäre die Schlagzeile des "Kielverderbers" passender gewesen, da waren aber andere schneller, was ich auch respektiere.
Mit dem Auto ging es heimwärts. Kaum zu Hause angekommen wurde sofort die Sport-im-Osten-Aufnahme konserviert und begutachtet. Fazit: 1.400 km die sich gelohnt haben!
Niemand wird es wagen, uns'ren HFC (auswärts) zu schlagen!
Hier gibts auch Bilder.
Holstein Kiel - Hallescher FC 1:2 (1:0)
Tore: 1:0 Siedschlag (19.), 1:1 Hebestreit (85.), 1:2 Müller (89.)
Zuschauer: 7342
KSV: Frech - Hummel, Boy, Schyrba - Brückner (89. Jürgensen), Guscinas - T. Siedschlag, Nouri (68. Vujcic), Schulz - Stier (72. Lartey), Grgic
HFC: Horvat - Schubert, Lachheb, Kamalla, Benes - Finke, Görke (64. Kunze) - Re. Stark (90. Hartmann), Hebestreit, Kanitz - Neubert (57. Müller)